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Im Gedicht:

"Loslassen"

Autor: Hartmut Günther
Datum: 21.02.2021
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I
Das Loslassen, so
verkünden Tausende von Webseiten,
Lebensberater, Yogis,
geldsaugende Scharlatane,
das ist die Kunst, die
du lernen musst, um
glücklich zu sein.
Dann wollen wir jetzt mal kräftig
einen loslassen.
Ups – das war wohl
nicht gemeint,
auch nicht, am Straßenrand
das Kind an der Hand
oder in der Felswand das Seil
mit dem Mitkletterer unter sich
einfach loszulassen.
Nein, nein! Es ist
nicht ein transitives Verb
gemeint, dass du irgendetwas
loslassen sollst, sondern
ein intransitives – Loslassen ohne
Objekt, ohne irgendetwas Konkretes. Dass
es im Duden so ein Verb nicht gibt, spricht nicht
dagegen, dass es die Sache gibt.
Aber ob die Ratgeber, Gurus,
Heilsprediger etwas von Grammatik verstehen, ist
eher unwahrscheinlich.
Nimm alle Kraft zusammen,
rufen sie dir zu,
um endlich loszulassen,
begrabe das, was du
nicht zu brauchen glaubst,
– das wieder transitiv – stampfe drauf herum,
schreie „ich will das nicht“, ganz
laut, oder wirf es mit aller Kraft
in den Fluss oder ins Feuer.
Die Devise, die sie dir
mitgeben, heißt Nein. Du sollst
etwas endlich und
endgültig abwehren.
So, als wäre, wenn
du es geschafft hättest, damit
alles gut, weil das alles
ja nicht mehr da ist, wenn
du mit aller Kraft
losgelassen hast. Aber
hast du das nicht immer schon
vergeblich gemacht?

II
Manchmal, ganz selten,
wenn du
fern des Lärms
unter einem herrlichen Himmel
an einem kleinen Feuer sitzt,
oder hoch über dem Tal
auf einem Baumstumpf,
aber manchmal auch
mittendrin im lauten Getriebe
passiert es, dass du
Stück für Stück
auch den fernen Hund nicht mehr bellen,
die Vögel nicht mehr zwitschern,
die Straßenbahn nicht mehr kreischen,
die Menschen nicht mehr plappern hörst.
Alles
fällt von dir ab, lässt dich los,
und du bist
selig in dir
im Universum
allein.

III
Was ist passiert?
Nicht du hast etwas
losgelassen,
du hast nichts gemacht,
nichts weggeschrieen,
nichts verbrannt,
nichts vergraben,
nichts versenkt.
Alles
hat dich
losgelassen,
denn du hast es
zugelassen.